Yoga und Alltag

Yoga ist Alltag?!

Es klingt für mich immer etwas merkwürdig, wenn ich mich zu jemandem sagen höre, dass ich „gleich Yoga üben gehe“ oder „die nächsten zwei Stunden Yoga mache“, ganz so, als wäre diese Zeit auf der Matte etwas von den restlichen 22 Stunden losgelöstes, etwas, dass man eine Zeitlang tut, dann damit aufhört und schließlich wieder zum Alltag übergeht. Das jedoch ist nicht meine Erfahrung.

Der „Alltag“ bietet eine Unmenge an Gelegenheiten Yoga zu praktizieren! Wir haben jederzeit die Möglichkeit uns mit diesem Moment, mit dem „großen Ganzen“ in und um uns zu verbinden (Yoga = verbinden).

Dafür müssen wir uns nicht in der Supermarkt-Warteschlange in Tadasana (Bergstellung) zwingen oder auf dem Bahnsteig auf einem Bein in der Baumstellung stehend auf den nächsten Zug warten (obwohl du beides natürlich gerne mal ausprobieren kannst, sofern du Spaß daran hast und etwas Sicherheitsabstand zum Gleis hältst), denn allein auf die innere Haltung kommt es an. Auch im „Alltag“ haben wir die Möglichkeit unseren Körper in verschiedensten Situationen zu erleben (Asana), unsere Atmung wahrzunehmen und als „Anker“ zu nutzen (Pranayama), uns zurückzubesinnen auf unser Zentrum (Pratyahara), achtsam und konzentriert zu handeln (Dharana) und uns mit unserem Selbst zu verbinden (Dhyana).

Die formale Praxis auf der Matte ist ein Experimentierfeld, ein Schutzraum, der uns die Möglichkeit gibt, weitgehend ungestört von äußeren Ablenkungen eine Menge über uns und unsere Beziehungen zur Welt zu erfahren. Hier haben wir genug mit unseren inneren Ablenkungen zu tun, der taktlosen Chefin von gestern und den Einkäufen für den veganen Käsekuchen von morgen. Wir treffen auf ähnliche Herausforderungen wie im Alltag: Gedanken, die uns in die Vergangenheit oder die Zukunft ziehen, Vorstellungen davon, wie wir oder andere zu sein haben oder wie etwas zu sein hat, Gewohnheiten, Gefühle, die uns besuchen, Leistungsdenken, Grenzen… Alldem können wir hier – fernab von Reiz- und Informationsflut, Schnelllebigkeit und multi-tasking, Hektik, Stress, blabla und vollen Terminkalendern – im Licht unseres Gewahrseins begegnen, können üben immer und immer wieder zurückzukommen zu der Erfahrung genau dieses Moments und damit wahrhaftige (Lebens-)Qualitäten entfalten: Achtsamkeit, Gelassenheit, Stabilität und Flexibilität, Intuition und Introspektion, Kreativität, Zufriedenheit, Langsamkeit, Präsenz und vieles, vieles mehr…

Nach und nach wird es uns ein Bedürfnis sein, diese Praxis (und die damit einhergehenden Qualitäten) über den Mattenrand hinaus in unser Leben „da draußen“ zu integrieren. In unsere Art und Weise zu essen, zu gehen, einzukaufen, in unsere Arbeit, in Beziehungen… Gar nicht so leicht… Wir werden – genau wie auf unserer Matte im stillen Kämmerlein – immer wieder abschweifen, fortgerissen. Doch darum geht es nicht. Es geht um das immer wieder Zurückkommen.

Im Fußballsport hat mal jemand gesagt: „Grau ist alle Theorie – Entscheidend is’ auf’m Platz!“ So ist es wohl schlussendlich auch im Yoga: Entscheidend is’ auf’m (Markt-)Platz! Die Tiefe unserer Praxis hängt entscheidend davon ab, ob sie ein isolierter Zeitvertreib, im schlimmsten Fall ein abzuhakender Punkt auf unserer Tagesagenda, bleibt. Oder ob wir fähig sind Yoga nicht nur phasenweise zu üben, sondern zu LEBEN. Einfach so.